Toxic Workaholism
Grundsätzlich ist „Workaholism" ein sozialer Begriff, der an den Alkoholismus angelehnt ist und eine Abhängigkeit beziehungsweise Sucht impliziert. Was genau unter Workaholism verstanden wird, veränderte sich über die Jahrzehnte hinweg und unterscheidet sich auch heute noch je nach Kontext. Während die einen Workaholism als übermäßigen und unkontrollierbaren Arbeitszwang sehen, ist es für andere ein Syndrom, das sich aus hohem Antrieb, hohem Arbeitseinsatz und geringer Freude an der Arbeit zusammensetzt. Auch das irrationale Engagement für exzessive Arbeit, bei dem sich die betroffenen Personen nicht freinehmen oder sich ablenken können, kann als Workaholism bezeichnet werden. Alle Definitionen verstehen Workaholism als eine Überbeanspruchung bei der Arbeit, die in der Regel mit dem eigenen Antrieb zur Arbeit zusammenhängt.
Während sich Workaholism auf das berufliche Umfeld bezieht, kann sich die toxische Produktivität in alle Lebensbereiche einschleichen; seien es Ergebnisse im Hochschulkontext/ auf der Arbeit, sportliche Leistungen oder Selbstverwirklichungsprojekte. Produktivität allein – also die Zeit effektiv zu nutzen und möglichst viel zu schaffen oder ganz nüchtern ausgedrückt Produktivität = Output/Input – ist nichts Schlechtes. Toxisch wird das Ganze dann, wenn versucht wird, den Output und damit die Produktivität zu steigern, ohne sich um die Auswirkungen auf den Input, nämlich die Zeit und die Energie, zu kümmern. Toxic Productivity ist somit im Wesentlichen ein ungesunder Wunsch, immer und um jeden Preis produktiv zu sein. Es ist das Bedürfnis, die Extrameile zu gehen, auch wenn es nicht erwartet wird. Dies kann zu einer Besessenheit von Selbstoptimierung heranwachsen, die über allen anderen Dingen steht.
Der Hustle hört nie auf, richtig? Steh auf und arbeite, verdammt noch mal!
9-5? Nicht für mich!
Workaholism lässt sich nicht allein durch die Anzahl der geleisteten Stunden feststellen. Die 50, 60 oder in Extremfällen auch noch mehr Stunden Arbeit, die man in der Woche leistet, machen einen noch lange nicht zum Workaholic. Der Unterschied zwischen dem Verhalten (viele Stunden arbeiten/produktiv sein) und der Geisteshaltung (Zwang zur Arbeit/Produktivität) ist entscheidend. Unsere Gefühle und Gedanken in Bezug auf die Arbeit beeinflussen unser subjektives Wohlbefinden und unsere Gesundheitsrisiken mehr als die Arbeitszeit. Es macht also einen Unterschied, wie sich eine einzelne Person im Verhältnis zu ihrer Arbeit fühlt.
Bei Workaholics äußert sich die Verhaltenskomponente durch übermäßigen Arbeitseinsatz, während sich die psychologische Komponente als Besessenheit von Arbeit/Produktivität sowie der Unfähigkeit, sich von der Arbeit zu lösen, zeigt. Demnach sind Workaholics Menschen, die ihrer Arbeit immer mehr Zeit und Gedanken widmen, als es die Situation erfordert, und auch während dem Wochenende oder Urlaub nicht aufhören können, viele Stunden zu arbeiten. Sie sind dabei körperlich abhängig von ihrer Arbeit/Produktivität, fühlen sich jedoch gleichzeitig zerfetzt, besorgt und gestresst und kämpfen damit, sich physisch und gedanklich von ihrer Arbeit zu entfernen. Der unkontrollierbare Arbeitszwang geht so weit, dass er die Gesundheit, das Glück und die Beziehungen der betroffenen Personen dauerhaft beeinträchtigt. Workaholics arbeiten exzessiv, weil sie sich beschäftigt fühlen müssen. Wenn sie nicht andauernd an ihre Arbeit denken und sich darauf konzentrieren, fühlen sie sich schuldig und unsicher. Für sie ist „genug" nie wirklich genug. Sie arbeiten auf eine ungesunde, nicht nachhaltige Art und Weise und haben dennoch nicht das Gefühl, etwas erreicht zu haben, das mit dem objektiven Erfolg einhergeht.
Im Vergleich dazu bringen sich hart arbeitende Menschen nicht in dieselben Situationen wie Workaholics. Sie arbeiten ab und zu länger, um wichtige Deadlines einzuhalten, aber vernachlässigen nicht ihre Gesundheit, Freunde und Familie. High Performer sind passionierte Arbeitende mit einer ausgeglichenen Work-Life-Balance, die sich glücklich und inspiriert fühlen. Für sie ist das hohe Arbeitsengagement neben Attributen wie Pünktlichkeit, zielorientiertem Handeln, Zuverlässigkeit und Eigeninitiative Teil einer guten Arbeitsmoral.
Workaholics sind „Person, deren Arbeitsbedürfnis so übermäßig geworden ist, dass es eine spürbare Störung oder Beeinträchtigung ihrer körperlichen Gesundheit, ihres persönlichen Glücks, ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen und ihres reibungslosen sozialen Funktionierens verursacht" – W. Oates
Situative, pseudo, prokrastinierende, manisch-depressive, ängstliche, inkompetente und bulimische Workaholics sind alles beispielhafte Workaholic-Typen, deren Unterteilungen sich teilweise ähneln, teilweise unterschiedliche Blickwinkel einnehmen und daher unterscheiden. An dieser Stelle soll lediglich auf einen wichtigen Aspekt hingewiesen werden: Wenn über vielarbeitende Menschen gesprochen wird, ist es wichtig zwischen denjenigen zu unterscheiden, die exzessiv arbeiten, sich ständig Sorgen um ihre Arbeit und ihre Produktivität machen (Workaholics), und solchen, die zwar viel arbeiten, dies jedoch sehr gerne tun und abseits ihrer Arbeit das Leben genießen können (High Performer). Hart arbeitende Menschen, die ihren Job lieben, sind tatsächlich vor den schwersten Gesundheitsrisiken von Workaholism einigermaßen geschützt, was aber längst nicht bedeutet, dass ihr Verhalten gut, geschweige denn gesund ist.
Letzten Endes arbeiten Workaholics, um wichtig zu wirken, während High Performer nach wichtigen Aufgaben Ausschau halten.
In der 28. Ausgabe der FORMAT, in der sich alles um Grenzen in allen Lebensbereichen dreht, beschäftigen sich Sarah Traub und Hanna Spitznagel ebenfalls mit dem Thema Arbeitssucht.
Wie bereits bei der Definition angeschnitten, haben Workaholism und Toxic Productivity soziale, psychische und physische Auswirkungen. Erkennen lässt sich die Arbeits-/ Produktivitätssucht beispielsweise daran, dass soziale Kontakte vernachlässigt werden, da gemeinsame Zeit mit Freunden und der Familie als unproduktiv angesehen werden. Wenn sich die Person dann doch abringt, etwas mit ihnen zu unternehmen, ist sie geistig abwesend, ihre Gedanken kreisen um die Arbeit und es werden gedankliche To-Do-Listen erstellt. Im Inneren der Person herrscht eine stetige Rastlosigkeit, die in diesen Momenten ein Gefühl der Unruhe oder gar Leere verspüren lässt. Das vermeintliche Nichtstun ruft ein schlechtes Gewissen hervor.
Diese negativen Gefühle beeinträchtigen zunehmend das psychische Wohlbefinden. Betroffene entwickeln ein niedriges Selbstwertgefühl, wenn sie nichts produzieren, kreieren oder an etwas arbeiten. Sie tun sich schwer, mit sich selbst allein zu sein, wenn sie nicht gerade produktiv sind und tendieren dazu, unrealistische Erwartungen an die eigene Leistung zu projektieren. Auch Unzufriedenheit mit der Arbeit und den eigenen Leistungen in anderen Lebensbereichen können auf toxische Produktivität hinweisen, da es den betroffenen Personen wie bei anderen Süchten keinen Spaß macht, zu arbeiten.
Da Workaholics nie wirklich abschalten und sich entspannen, treten oftmals verschiedene Gesundheitsprobleme wie Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme oder Stimmungsschwankungen auf. Dauert der Arbeitszwang länger an, wird das Immunsystem geschwächt, es kann sich ein chronisch hohes Stresslevel mit schwerwiegenden Folgen entwickeln, die betroffenen Personen werden anfälliger für Depressionen und haben ein sehr hohes Risiko eines Burnouts.
Sie sagen, du bist „immer am Arbeiten", „nie da" oder „immer am Telefon". Was sie wirklich sagen wollen, ist: „Wir vermissen dich. Wir brauchen dich. Bitte verbringe Zeit mit uns."
Nachdem nun klar ist, dass es keinesfalls gut für uns und unser Umfeld ist, stellt sich die Frage, wo diese toxische Arbeitseinstellung herrührt? Die Ursachen können persönliche Faktoren, sozio-kulturelle Faktoren sowie Verhaltensverstärkungen oder eine Kombination aller Aspekte sein.
Grundsätzlich neigen die Menschen zu einer ungesunden, nicht nachhaltigen Einstellung zur Arbeit beziehungsweise Produktivität, die Neurotizismus (emotionale Labilität) und Perfektionismus zu ihren ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen zählen. Oftmals sind es die eigenen Erwartungen an einen selbst, die zum Arbeitszwang führen, wenngleich der Druck indirekt von sozialen Medien, der ständigen Erreichbarkeit sowie dem kontinuierlichen Vergleichen mit anderen ausgehen kann.
Aktuell leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der großer Wert auf Produktivität gesetzt wird. Allein schon, dass von einer Kultur gesprochen wird, verdeutlicht, wie fest verankert die zugrundeliegende Einstellung gegenüber Arbeit ist. Selten feiern wir Menschen, die mental anwesend sind, sich gut erholen oder sich vernünftige Ziele setzen, die sie dann auch erreichen. Vielmehr belohnen wir die Besten, sind beeindruckt, wenn jemand die ganze Nacht durchgearbeitet hat, verherrlichen Unternehmer:Innen, die mit ihrem chronischen Schlafmangel und ihrer angeblich löblichen Arbeitsmoral prahlen und erkennen das andauernde Beschäftigt sein als Statussymbol an.
Wenn Menschen von der Gesellschaft, der sie angehören, gelobt oder ermutigt werden, kann dies den Wunsch wecken, immerzu produktiv sein zu wollen. Lob von außen kann das Gefühl des Selbstwertes und der Zugehörigkeit stärken, das sich dann zu einer Sucht entwickeln kann. Zudem wird in nahezu allen Studiengängen und in vielen Unternehmen das Mantra des lebenslangen Lerners gepredigt. Das Motto dahinter ist, dass diejenigen, die nicht mit der Zeit gehen und sich den ständig wechselnden Anforderungen anpassen, den Anschluss verlieren.
Wir sind umgeben von toxischen Mantras wie: Schlafe, wenn du tot bist. Steh auf und schufte. Geh die extra Meile. Schlaf ist etwas für Schwächlinge. Zu viel ist nie genug.
Häufig messen wir der Zukunft die höchste Priorität bei. Wir wollen die besten Noten, um auf die beste Hochschule oder Universität zu kommen. Dort schuften und lernen wir pausenlos, um den besten Abschluss zu bekommen, mit dem wir uns dann bei den besten Unternehmen bewerben, um die beste Karriere zu manifestieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Leben in der Gegenwart oftmals vernachlässigt wird und uns durch unsere toxische Arbeitseinstellung viele schöne und eigentlich einprägsame Momente entgehen.
Selbstverständlich spricht nichts dagegen, bei Bedarf einmal länger zu arbeiten, aber übertreiben sollten wir es nicht – schon gar nicht auf Kosten unserer Freundschaften, Familie und unserer eigenen Gesundheit. Es ist nicht verkehrt, die Arbeit zu lieben und leidenschaftlich dabei zu sein, jedoch sollten wir auch immer Zeit für andere wichtige Dinge im Leben lassen. Eines steht nämlich fest: Wir alle haben nur ein Leben. Es gibt keinen Probelauf oder eine zweite Chance – also genießt es, jetzt, hier und heute!
Literaturquellen
A cluster analysis investigation of workaholism as a syndrome
Aziz, S., Zickar, M.J. (2006). A cluster analysis investigation of workaholism as a syndrome. Journal of Occupational Health Psychology, 11, 52-62.
Personality correlates of workaholism. Personality and Individual Differences
Burke, R. J., Matthiesen, S. B., & Pallesen, S. (2006). Personality correlates of workaholism. Personality and Individual Differences, 40(6), 1223–1233.
Confessions of a workaholic: The facts about work addiction
Oates, W. E. (1971). Confessions of a workaholic: The facts about work addiction. New York: World.
Workaholism, life balance, and well‐being: A comparative analysis
Matuska, K. (2010). Workaholism, life balance, and well‐being: A comparative analysis. Journal of Occupational Science, 17(2), 104-111.
Determining the effects of workaholism
Machlowitz, M. M. (1978). Determining the effects of workaholism. Doctoral dissertation.