Zwei Stunden taub

Ich bin der festen Meinung, Filme können so viel mehr, als nur zu unterhalten. "Sound of Metal" ist einer dieser besonderen Filme, die das nur zu gut beweisen.

Da ich eines Abends in meiner WG sturmfrei hatte, nutzte ich die Gelegenheit, um meine neuen Lautsprecher mal so richtig auszureizen. Ich wählte den Film "Sound of Metal" und erwarte kraftvolle Musik und ein intensives Hörerlebnis. Genau das Gegenteil zeichnet sich jedoch relativ schnell ab, was ich bei weitem beeindruckender fand. Der Film "Sound of Metal" dreht sich um Ruben, den Schlagzeuger einer Metalband auf Tour, bestehend aus ihm und seiner Freundin. Von einem Moment auf den anderen verliert er jedoch sein Gehör, was sein ganzes Leben durcheinander bringt.

Was macht diesen Film so besonders?

Dass nur Ruben sein Gehör verliert, ist nicht ganz richtig.

Wir, als Beobachter, als Beteiligte, tun das mit ihm. Wir bemerken, wie wir uns nichts anmerken lassen wollen, um es nicht wahr werden zu lassen, um erst am größten Tiefpunkt damit herauszurücken. Wir spüren die Hilflosigkeit, nicht zu wissen, wie es weitergehen soll und völlig auf die Hilfe unserer Umwelt angewiesen zu sein. Wir erwischen uns dabei, wie wir dagegen ankämpfen und uns gegen unsere neue Realität wehren, bis wir dann doch lernen, zu akzeptieren und zu verstehen, was es bedeutet, kein funktionierendes Gehör mehr zu besitzen.

Im negativen, als auch im positiven Sinne.

Wir lernen, dass Gehörlosigkeit nicht nur Einschränkungen mit sich bringt, sondern eine wundervolle Kultur, eine neue Art, zu kommunizieren und die Welt wahrzunehmen.

Zusammengefasst, wir lernen die Welt durch die Perspektive einer gehörlosen Person auf eine Weise kennen, wie es sie im Film bisher noch nicht gab. In "Sound of Metal" ist Taubheit nicht nur ein Aspekt von vielen, es ist die eigentliche Geschichte, das Hauptthema und auch das, was der Film uns als Publikum mit auf den Weg geben möchte.

Wie schafft er das?

In seinem beachtlichen Regiedebüt legt Darius Marder allergrößten Wert darauf, sein Thema "Gehörlosigkeit" und dessen Community akkurat darzustellen. Die meisten der wichtigsten Rollen im Film werden von Personen aus der gehörlosen Community verkörpert, z.B. die real gehörlose Person Chelsea Lee (neu gewonnene Freundin des Hauptdarstellers Ruben), der Gebärdensprachtrainer Jeremy Lee Stone (Lehrer in der Kommune) und der Sohn tauber Eltern, Paul Raci (Rubens Mentor). Durch ihren Rat gewinnt der Film einiges an Authentizität.

Riz Ahmed, der Darsteller von Ruben, hört zwar ohne Einschränkungen, gibt jedoch auch sein Bestes, sich hineinzuversetzen. Er lernt über etliche Monate hinweg Gebärdensprache und trägt über ganze Tage hinweg Ohrenstöpsel, um Taubheit zu simulieren und somit zu verstehen.

Sound Design

Den Oscar für Sound Design 2021 erhielt Sound of Metal nicht umsonst.

Dinge fallen uns erst dann auf, wenn sie weg sind. Somit lässt der Film zu Beginn selbst kleine Geräusche, wie das Knistern einer Decke oder das Hacken eines Messers laut wirken, als würden wir uns in der realen Welt darauf konzentrieren. Kontraste zwischen LAUT (lauter Plattenladen) und leise (selber Laden nach dem Hörsturz), als auch INTENSIV (Metal-Konzert) und dezent (Rascheln der Bettdecke am Morgen danach).

Deaf people don't live in silence, it's on a spectrum

- Darius Marder, Regisseur von "Sound of Metal"

Die wesentliche Errungenschaft vom Sounddesign in "Sound of Metal" liegt besonders darin, dass Nicolas Becker und sein Sound-Team es geschafft haben, möglichst realitätsnah darzustellen, wie hörgeschädigte Menschen ihre Umwelt auditiv tatsächlich wahrnehmen. Dazu gehörte eine Menge an Recherche über die Physiologie des Hörens und Gespräche mit ehemals Hörenden und Audiologen. Ein Gehörverlust passiert in der Regel nicht vom einen auf den anderen Tag. Man verliert nach und nach verschiedene Frequenzbereiche in verschiedenen Geschwindigkeiten.

In einem Interview erzählt Nicolas, der "Point of hearing" einer tauben Person, ist relativ ähnlich zum Klangbild unterwasser. Anstatt mit dem Gehör wahrzunehmen, leiten Schädel und Knochen jegliche Geräusche als Vibrationen direkt an die Cochlea, auch Hörschnecke genannt. Somit werden insbesondere die Geräusche des eigenen Körpers sehr deutlich. Diese rekreiert er durch ein sehr sensibles Stethoskop in Kombination mit einem hochsensiblen Mikrofon, wodurch selbst die unscheinbarsten Dinge, wie den Unterkiefer zu bewegen oder sich im Ohr zu stochern im Film hörbar gemacht werden.

Per Kontaktmikrofon werden Umgebungsgeräusche auf eine Weise aufgenommen, die den Schall in der Luft ignoriert und vielmehr die Geräusche der Umgebung aufnimmt, die vor allem durch Erschütterungen entstehen.

Spoiler, aber auch interessant :)

Im späteren Verlauf repräsentiert der Film das Hören mit Cochlea-Implantaten. Sie umgehen die herkömmliche Physiognomie des Hörens und senden ein elektronisches Signal direkt ans Gehirn, welches diese Signale erst einmal zu verarbeiten lernen muss. Der Klang, der hierbei entsteht, sollte weder wie eine digitale, noch eine mechanische Verzerrung klingen. Hierbei handelt es sich um eine komplett andere Art, Geräusche wahrzunehmen, als wäre es eine ganz andere Welt. Zudem fehlt die räumliche Wahrnehmung, was umso mehr zur Orientierungslosigkeit beiträgt.

Durch einen komplexen Prozess wird jegliches aufgenommenes Geräusch in verschiedene Kategorien eingeteilt, unterschiedlich verarbeitet und wieder zu einer Gesamtkulisse zusammengesetzt. Stimmen klingen wie von Robotern an einem klirrenden Telefon, Klavierspiel verkommt zu gedrückten Störgeräuschen und ein schönes Gespräch auf einer Gartenparty ist nicht mehr entzifferbar.

Erzählweise und Vermittlung

Neben dem Sounddesign ist ganz klar die Erzählweise für eine große Empathie mit Ruben und seinem Leiden zuständig. Durch einige clevere Kniffe befindet man sich durchgehend in seinem Empfinden und versteht sein Denken und Handeln.

“You feel like in a space, you can't escape”

- Darius Marder

Nach seinem Hörsturz geht Ruben zum Audiologen, der ihm prophezeit, sein Gehör wird nicht wieder kommen und er muss um jeden Preis schützen, was er jetzt noch hat. Ruben fühlt sich hilflos und unterschwellig panisch.

Am Abend darauf sitzt er beim nächsten Konzert am Schlagzeug, der "Point of hearing" wechselt mit einem hellen Fiepen in seine Wahrnehmung. Ein Close-up auf sein Gesicht, während seine Verzweiflung sichtbar immer größer wird und er mit aller Kraft versucht, durch immer intensiveres Trommeln eine imaginäre Wand zu durchbrechen, in der Hoffnung, somit wieder hören zu können.

Wie ein eingeengtes, wildes Tier.

Szene im Drehbuch

INT. THE CELLAR ROOM, STAGE - LATER

Red lights strobe on Ruben’s sweat ridden face as he crushes his sticks against the drums. He tries to hold on to an impossibly thin thread of sound. As we move closer into Ruben’s eyes we see a deep well of hurt... The strobing lights continue, illuminating flashes of Ruben’s face in various poses of demonic ecstasy and pain... The song builds as Ruben hits harder and harder... Suddenly, the crackle of sound breaks up... Ruben’s no longer hearing Lou or his own drums. His drumming and Lou’s playing is suddenly out of sync. She looks back at him, abruptly broken out of her spell, her eyes full of confusion. Ruben panics. He continues to play in shock - staring hard at Lou, trying desperately to hold on to her rhythm and his place in the song, his place in the world. She looks at him closely as she plays the final chord. Ruben glances at the crowd, paranoid, devastated in his horrible, emerging silence. He stops playing, puts down his sticks. Lou is shocked. Ruben gets up and pushes his way through the crowd, down a hall, up stairs and bursts out into an ally... no sound... the world has gone silent. He stares, terrified and alone... his hands shake.... He whips around feeling a hand on his shoulder. Lou is standing there. She reacts immediately to his demeanor. She speaks but Ruben doesn’t hear...

Anfang des zweiten Drittels wird Ruben in einer Gehörlosencommunity aufgenommen, die ihm helfen soll, in seiner neuen Situation klarzukommen. Er sitzt am Abend des ersten Tages mit anderen Gehörlosen am Esstisch und versteht aufgrund seiner fehlenden Gebärdensprachkenntnisse nichts von der Unterhaltung, wir als Zuschauer sind genauso ratlos und aufgeschmissen. Als wären wir in einer Unterhaltung in einem anderen Land.

Szene im Drehbuch

INT. JOE’S HOUSE, DINING ROOM - DAY

From Ruben's POV the meal is muffled, save for the low frequency slamming of the table as raucous conversation ensues around him.

We break out of his perspective into a surprisingly loud dinner as an animated conversation progresses to a fever pitch between DAN and a red faced Jenn. She signs lightning fast... her signing becomes more and more crude as the moment progresses. Joe slams the table adding something to the conversation. Jenn shrugs as if to say “What’s the problem?” Jenn looks at Ruben, knowing he's catching none of the conversation. She types something into her tablet and big bold words scroll across the screen: “DAN'S A PUSSY”. We stay on Ruben’s face for a beat. He stares down at his food. He looks around, bleary eyed at his alien, new home.

Mit jeder neuen Interaktion mit anderen entschlüsseln wir die Bedeutung der Zeichen ebenso wie Ruben. Je mehr er jedoch in der Community ankommt und deren Art zu kommunizieren kennenlernt, desto mehr verstehen wir als Zuschauer auch.

Zu Beginn spricht er noch jedes einzelne Wort aus, welches er versucht zu kommunizieren, selbst als er bereits die ersten Sätze in Gebärdensprache reden kann. Eine Sache, die auch sein Darsteller "Riz Ahmed" selbst nach einem dreiviertel Jahr an Sprachunterricht nur schwer abstellen kann. In einem Gespräch mit seinem Lehrer Jeremy Lee Stone sagt Riz "I just felt like I had to refuse you in that moment because I’m not comfortable. I wasn’t ready to turn off my voice". So geht es laut Jeremy den meisten.

Das erste Mal, dass wir Untertitel für Gebärden erhalten, geschieht ab dem Zeitpunkt, an dem Ruben sich in der Community sichtlich einlebt und anfängt, zurückzugeben und zu investieren.

Zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt sich die Szene am Esstisch, dieses Mal jedoch mit Ruben als integriertes Mitglied der Community.

Szene im Drehbuch

EXT. JOE'S HOUSE, PORCH - DAY

Ruben sits around the dinner table, now comfortable in ASL. He laughs and signs and eats.

Kleiner Fun Fact zur ersten Unterhaltung ohne Untertitel. Es handelt sich um eine amüsante Diskussion, wer wohl die Toilette nicht abgespült hat.

"For most of my life, I was fed the narrative that deafness is something that can, and perhaps should, be fixed—or at least close to it."

- Adam Membrey, gehörloser Filmredakteur

In seinem Artikel über "Sound of Metal" geht Adam Membrey, ein gehörloser Filmredakteur, auf seine persönliche Sichtweise auf den Film als betroffene Person ein und vergleicht seine eigenen Erfahrungen mit denen von Ruben.

Er schreibt unter anderem über ein Ereignis seiner Jugend, als seine Hörgeräte ausfielen und er in große Panik verfiel. Er hatte keine Angst davor, wieder taub zu sein, er hatte sie davor, das Leben auseinander fallen zu sehen, was er sich mit viel Mühe und harter Arbeit aufgebaut hatte.

Spoiler

Er erzählt, wie er damals seine ersten Hörimplantate bekam und diese nicht annähernd den Erwartungen gerecht wurden, die er sich durch etliche Versprechungen auf ein besseres Leben aufgebaut hatte.

Kritik am Film

So authentisch der Film auch versucht zu sein, kritiklos kommt er leider nicht davon. So stellt keystoneaudiology.com beispielsweise klar, dass ein Gehörverlust im Normalfall nicht einfach so von einem auf den anderen Moment passiert. Wenn so etwas passiert, sollte sofort ein HNO-Arzt aufgesucht werden..

Die Beratung des Audiologen im Film wird nur sehr flach und gefühlskalt dargestellt, einige wichtige Details werden ausgespart und die Unterstützung für Ruben bleibt ebenfalls aus. Hier könnte man mit einem ausbalancierten Pacing gegenargumentieren (Geschwindigkeit, in der die Handlung vorangeht), was angesichts der Sorgfalt auf Authentizität nur wenig funktioniert.

Man ey, schon wieder Spoiler

Die Mehrheit der Versicherungen übernimmt die Kosten für Hörimplantate. Ruben ist im Film gezwungen, den gemeinsamen Tourbus zu verkaufen, da er vermutlich keine dieser Versicherungen hat. Erwähnt wird das im Film jedoch nicht.

Die kompromisslose Einstellung der Community gegenüber Hörimplantaten ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der erwähnt werden sollte. Diese Einstellung wird nur von einem kleinen Teil aller Kommunen vertreten, die meisten sind offen gegenüber Hilfsmitteln. Hierbei bezieht der Film Stellung, über die man sich streiten kann. Niemand sollte dafür verurteilt werden, Hörimplantate zu wollen.

Fazit

Gerade in der Designwelt ist es wichtig, eine hohe Empathie für verschiedene Themen zu aufzubauen, insbesondere, wenn man diese in Projekten behandelt. "Sound of Metal" ist ein eindrucksvoller Versuch, diesem empathischen Blick gerecht zu werden. In weiten Teilen schafft er dies sogar tatsächlich meisterhaft, was ich als eine beachtliche Leistung sehe.

Dieser Film ersetzt keine umfassende Recherche, aber er führt mich als Zuschauer tief in die Realität eines Gehörlosen hinein, sodass ich einen deutlich besseren und vor allem persönlicheren Einstieg ins Thema finde. Meiner Meinung nach ist er eine der Perlen, die deutlich zeigen, dass Film so viel mehr als nur eine reine Achterbahnfahrt sein kann (ich gucke auf dich, Marvel :D), für sehenswert halte ich ihn aber in jedem Fall. Mein eigenes Bewusstsein für Gehörlosigkeit ist zumindest deutlich gestiegen, somit sehe ich Taubheit inzwischen nicht mehr nur als Behinderung, sondern vielmehr als eine eigene Kultur, eine eigene Art zu leben.

Ich bin Dominik Herrmann

Foto von Dominik Herrmann

Name: Dominik Herrmann

Alter: 27

Wohnort: Schwäbisch Gmünd

Beruf: Mediengestalter Digital

Hauptcharakterzug: Tiefenentspannt

Lieblingsschrift: GT Sectra

Lieblingsfarbe: Welchselt mehrmals pro Stunde