Klicken im Autopilot
... aaand its gone.
Ein Freund bat mich einmal um Feedback zu einem Projekt, an dem er in InDesign arbeitete. Versehentlich verwechselte er dabei die Tastenkombination für "Präsentationsmodus" mit der für "Dokument schließen". Er arbeitete seit 8 Stunden an dem Dokument, ohne es zu speichern (das macht er inzwischen nicht mehr). Clever wie InDesign ist, fragte ihn ein Dialogfenster, ob er wirklich sicher sei, dass er die ganze Arbeit der letzten Stunden einfach so verwerfen wollte. In Gedanken bei unserem Gespräch klickte er im Autopilot auf "Nicht speichern" und wunderte sich einen Moment später, wo auf seinem Bildschirm sein offenes Dokument plötzlich hin war. Erst ein paar Sekunden später wurde ihm klar, was wirklich passiert war, und er stieß einen so genervten Seufzer aus, wie ich ihn seitdem nicht mehr gehört habe.
Zusammenfassung der Situation
- Er schloss versehentlich sein Projekt
- Er klickte das lästige Pop-up im Autopiloten weg
- Er realisierte anschließend, dass 8 Stunden Arbeit unwiederbringlich verloren waren
Dies ist ein wunderbares Beispiel für ein Verhaltensmuster, das ich bereits in verschiedenen Formen und Variationen - von harmlos ("Cookies akzeptiert") bis gravierend ("8 Stunden Arbeit gelöscht") - beobachten konnte und gerne etwas näher beleuchten möchte.
In meiner dreiteiligen Artikelserie geht es um das Verhaltensmuster selbst, die psychologischen Hintergründe und die Möglichkeiten, was man als digitaler Designer oder bereits als Konsument besser machen kann.
Kein wissenschaftlicher Artikel!
Mein persönliches Ziel ist es, dieses Verhaltensmuster mit jedem Artikel besser zu verstehen und mit euch Meinungen und Erfahrungen auszutauschen. Diese Serie ist ein Bericht über meine Erfahrungen und die meiner Gesprächspartner sowie meine persönliche Interpretation, weshalb ich auch in der ersten Person Singular schreibe. In dieses Verhaltensmuster zu verfallen, hat meinem aktuellen Stand nach weniger mit Intelligenz als mit Gewohnheit zu tun.
Ich bin mir sehr bewusst, dass ich mit meinen Aussagen auch falsch liegen kann und freue mich auf euer Feedback, eure Erfahrungen, Gegenmeinungen oder hilfreiche Insights. Aber Hinterfragen gehört ja generell zum Wesen eines guten Designers, nicht nur bei diesem Artikel.
Alles begann mit Cookies
Aufmerksam wurde ich auf das Verhaltensmuster durch das Gespräch zweier UX-Designer im Podcast "Unusable Podcast", in dem sie sich in einem Nebensatz daran störten, dass die damals neue Verordnung "GDPR" - auf Deutsch "DSGVO" - Webseitenbetreiber dazu verpflichtet, Besucher zunächst um Erlaubnis zur Verwendung von Cookies zu bitten. Ihre Kritikpunkte waren insbesondere ...
... der für die meisten Nutzer irrelevante und eher lästige zusätzliche Schritt, der den "mentalen Workload" nur weiter erhöht
... der Nutzer sich daran gewöhnt, Inhalte nur grob zu überfliegen oder komplett zu überspringen und so schnell wie möglich auf Schließen/Akzeptieren zu klicken.
Ich habe oft über dieses Thema nachgedacht und festgestellt, dass sich diese Gewohnheit - ich würde sogar sagen Konditionierung - nicht nur auf "Cookie-Pop-ups" beschränkt.
Das Verhaltensmuster im Detail
Um das Verhaltensmuster besser erklären zu können, habe ich mir folgenden Begriff überlegt. Zugegeben etwas überspitzt, aber er beschreibt ziemlich genau, was ich meine.
Attention Begging Element
Als "Attention Begging Element" (AB-Element) bezeichne ich ein UI-Element, das die Aufmerksamkeit des Nutzers mit einem bestimmten Ziel auf sich ziehen will und ihn damit (manchmal ungewollt) von seinem eigentlichen Ziel ablenkt/abhält. Das Ziel des Elements ist es, zu informieren, zu werben, zu warnen oder zum Handeln aufzufordern. Durch eine besonders auffällige Darstellung oder Animation zieht es die Aufmerksamkeit auf sich.
Es gibt verschiedene Formen, die häufigste ist das Pop-up, aber auch eine Mail oder ein Werbebanner würde ich als solches bezeichnen. Im weitesten Sinne könnte man sogar eine Smartphone-Benachrichtigung am oberen Rand des Bildschirms oder eine Flughafenansage dazu zählen. Um den Artikel in Grenzen zu halten, werde ich mich aber in erster Linie auf die klassischen Pop-ups beziehen.
Entscheiden im Autopilot
Aufgrund der von mir gesammelten Beispiele habe ich diese in vier Schritte eingeteilt.
1. Ziel
Die nutzende Person hat eine Aufgabe, die sie zielstrebig erledigen möchte.
2. Hindernis
Plötzlich erscheint ein "Attention Begging Element".
3. Auswahl
In meiner Erfahrung als Benutzer habe ich gelernt, dass Pop-ups in der Regel keine wirklichen Konsequenzen haben, unabhängig davon, was ich auswähle. Somit wurde durch die häufige Verwendung die Wichtigkeit im Auge des Betrachters "verwässert". Ich klicke gedankenlos auf die gewohnte Schaltfläche, oft die leicht hervorgehobene Call-to-Action-Schaltfläche.
4. Konsequenz
Entweder ...
... ist es die belanglose Art von AB-Element, die meine Erwartung, keine Konsequenzen zu haben, weiter bestätigt ...
… oder es ist ein kritischer Fall und ich schade mir selbst durch eine unglückliche Unachtsamkeit
Hierzu zwei Beispiele
Harmloser Ausgang
- Ich möchte wissen, wie ich Weinflecken aus dem Teppich entfernen kann und recherchiere im Internet.
- Auf dem "Tipps und Tricks"-Blog wird ein Cookie-Banner eingeblendet.
- ich klicke beim Cookie-Banner auf "Akzeptieren"
Ausgang mit Konsequenzen
- Ich habe ein Problem mit meinem Computer und möchte ihn neu starten, um es zu beheben.1.
- Ein noch laufendes Programm zeigt mir ein Dialogfeld "Änderungen wirklich verwerfen?"
- Ich klicke aus Gewohnheit auf "Nicht speichern" und verwerfe meine ungespeicherte Arbeit.
Motivationen von AB-Elementen
Ich konnte meine gesammelten Beispiele auf vier grundlegende Motivationen herunterbrechen. "Attention Begging Elements" wollen die Nutzer in der Regel informieren, zur Interaktion anregen, vor etwas warnen oder für etwas werben.
Informieren
Das Element möchte dem Benutzer nützliche Informationen liefern. Es will ...
... über eine neue Funktion informieren
... mit Anleitungen den Einstieg erleichtern
… an einen bevorstehenden Termin erinnern
… mich für 10.000 gemachte Schritte loben
Zur Interaktion auffordern
Das Element möchte den Nutzer zu einer sofortigen Interaktion auffordern. Ihm wird eine Auswahl von mehreren Optionen präsentiert, in vielen aber auch die Möglichkeit, zu überspringen. Es fordert auf …
… zum Akzeptieren/Ablehnen von "Cookies" und "Allgemeinen Geschäftsbedingungen"
…, bei der ersten Nutzung einer App über die Erlaubnis zur Verwendung von Kamera, Mikrofon, Standortdaten und anderen Funktionen zu entscheiden.
…, sich von einem Chatbot in der unteren rechten Ecke helfen zu lassen oder eine Umfrage auszufüllen.
Vor etwas warnen
Das Element will vor Gefahren oder Fehlentscheidungen warnen und hat daher eine hohe Relevanz für die Nutzer. Es warnt …
... im Falle einer nicht gespeicherten Datei, bevor die eigene Arbeit gelöscht wird.
… vor möglicherweise schädlichen Downloads
… vorm Versenden einer Mail ohne Betreff
Für etwas werben
Das Element will ein Produkt/eine Dienstleistung vorstellen oder die Markentreue stärken, typische Marketingstrategien eben. Es bewirbt ...
... einen Newsletter, um keine Neuigkeiten zu verpassen.
... ein einmaliges Sonderangebot mit begrenzter Laufzeit".
... eine kostenlose Demo oder eine Premium-Version eines kostenlosen Services
Einige "AB-Elemente" haben mehrere Motivationen gleichzeitig und wollen beispielsweise gleichzeitig werben und auffordern (Newsletter).
Wer ist betroffen?
Inwieweit eine Person von diesem Verhaltensmuster betroffen ist, lässt sich nicht pauschal sagen. Nach meiner Erfahrung und einigen Gesprächen haben vor allem zwei Faktoren einen starken Einfluss.
1. Wie sicher fühlt sich eine Person im Umgang mit Technik?
2. Wie genau und fehlerfrei muss die Person in anderen Lebensbereichen arbeiten?
Sicherheit in der Nutzung
Mit regelmäßiger Wiederholung der gleichen Aktion entstehen Routinen. Diese ermöglichen es, gleiche Arbeiten schneller durchzuführen und somit produktiver zu sein.
Fatal ist es nur wenn wichtige und früher seltene Interaktionspattern zu Routinen werden und somit die Wirkung verfehlen. Man beginnt, abzukürzen, was im Falle von Pop-ups bedeutet, den Text zu überfliegen und schnellstmöglich den gewohntesten oder auffälligsten Button anzuklicken.
Genauigkeit und Fehlerfreiheit in anderen Lebensbereichen
Je höher das Maß an Sorgfalt in anderen Lebensbereichen ist, desto mehr ist man an spürbare Konsequenzen gewöhnt und bringt damit auch ein höheres Maß an Achtsamkeit für den Einzelfall mit.
Als Beispiel eignet sich der Vergleich zwischen Designarbeit und Serveradministration besonders gut.
Bei der Designarbeit geht es oft darum, Varianten zu bilden und möglichst viel auszuprobieren und mit Endanwendern zu testen.Fast jeder Schritt kann mit "ctrl+z" rückgängig gemacht werden. Abgesehen von einer versendeten Mail, einem ausgesprochenen Wort oder einem abgeschlossenen Druckauftrag ist hier kaum etwas unumkehrbar festgeschrieben.
In der Serveradministration, insbesondere im laufenden Betrieb, ist die Lage wesentlich kritischer. Eine falsche Eingabe kann unter Umständen einen Server zum Absturz bringen oder eine ganze Datenbank überschreiben, die im schlimmsten Fall nicht ohne Backup wiederhergestellt werden kann.
Serveradministration ist vergleichbar mit einer Operation am offenen Herzen - aber ohne Betäubung
- Lukas Kimpel, DevOps Engineer, DB Systel GmbH
Ausblick
Im zweiten Teil möchte ich mich mit der Unterstützung eines Psychologiestudenten tiefergehend mit den Gedanken und Motivationen von Nutzer/innen befassen, die mit Attention Begging Elements in Verbindung stehen.
Im dritten Teil möchte ich mit einigen erfahrenen Leuten aus der Branche sprechen und die Frage klären, was wir eigentlich besser machen können. Sowohl als Designer als auch als Nutzer.
Wie zu Beginn erwähnt, wer selbst interessante Erfahrungen gemacht hat, passende Studien dazu kennt oder einfach eine andere Meinung vertritt, ich freue mich sehr über jeden Input.