Das integrative Potential von Design - eine Glosse

Tabea Schmid schreibt in ihrer Kolumne über das integrative Potenzial von Design.
sehr viele milchige Glühbirnen von einem hellen Zentrum durchleuchtet, vor türkis-petrolfarbiger Wand
lächelnde, braunhaarige Frau in orangenem Kleid angelehnt an Mauer vor Grünstreifen

Tabea Schmid arbeitet aktuell an ihrer Dissertation zu digitalen Kulturerbe im Museum. Sie studierte Informationsdesign und Strategische Gestaltung und befasste sich in ihrer Masterarbeit 
mit den Handlungsmöglichkeiten des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Selbstfindung

Wir Designer befinden uns in der Krise – in der Selbstfindungskrise – und das ist nichts Neues. Aber da draußen gibt es eine noch größere Krise. Die bisherigen Stabilisierungsmechanismen geraten ökologisch, ökonomisch und sozial zunehmend an Grenzen. Heißt: Was wir essen, wie wir uns fortbewegen, woher unsere Kleidung kommt, wie wir mit Stadtraum umgehen – all das fußt auf Prinzipien, die so nicht länger funktionieren. Wird hier ein ökologisches Loch geflickt, bricht es an anderer Stelle auf. Die Politik steuert gegen, verbietet, fördert, bestraft. Die Wissenschaft untermauert mit Erkenntnissen und Empfehlungen. Doch der Mensch kauft trotzdem einen Coffee to Go samt Karamellsirup aus dem Plastikbecher kurz vor Abflug zu seinem Kurztrip nach New York während er übers Smartphone die neuen Möbel bestellt und zuhause die Heizung bullert.

Was wir essen, wie wir uns fortbewegen, woher unsere Kleidung kommt, wie wir mit Stadtraum umgehen – all das fußt auf Prinzipien, die so nicht länger funktionieren.

Hemdsärmelige Heilsversprecher

Das düstere Szenario ist ausgebreitet, der Plot könnte nun so verlaufen: Es gibt ein Problem. Wissenschaftler, Politiker und Manager mühen sich vergeblich. Dann kommen Designer und zücken ihre Methoden und Prozesse. Am Ende steht die passgenaue Lösung. Klingt gut und verkauft sich unter Namen wie Design Thinking, User Experience Design, Social Design. Aber, liebe Designer, ihr seid’s nicht. Ihr allein löst nicht das messianische Heilsversprechen ein und rettet die Welt.

Aber, liebe Designer, ihr seid’s nicht. Ihr allein löst nicht das messianische Heilsversprechen ein und rettet die Welt.

Transdisziplinäre Forschung

Nach diesem Dämpfer kommt hier die versöhnliche Wendung: Designer werden trotzdem gebraucht. Das Zauberwort heißt transdisziplinäre Zusammenarbeit. Transdisziplinarität ist die Kommune unter den wissenschaftlichen Daseinsformen. Multi-, Inter- und Transdisziplinarität bedeuten je etwas anderes: Wenn Wissenschaftler multidisziplinär zusammenarbeiten, teilen sie ihr Wissen wie gute Nachbarn den selbstgebackenen Kuchen auf dem Büffet. Wenn Wissenschaftler interdisziplinär arbeiten, dann backen sie den Kuchen gemeinsam wie Mitglieder einer Wohngemeinschaft. Und transdisziplinäre Kuchenbäcker laden Schleckermäuler von der Straße ein, das Rezept mitzuentwickeln. Im transdisziplinären Projekt arbeiten verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit Nichtwissenschaftern zusammen. Diese Nichtwissenschaftler sind relevant, weil sie eine andere Perspektive einbringen. Um im Bild zu bleiben: Kuchenesser wissen genau, wie Kuchen schmecken muss. Sie sind Geschmacksexperten. Deshalb dürfen sie gleichberechtigt mitreden. Das verkompliziert den Prozess natürlich. Aber am Ende steht ein Lieblingskuchen bzw. eine passgenaue Lösung. Und, fast noch wichtiger, diese Lösung steht nicht nur auf dem Papier, sondern wird gelebt und angewendet. Rein wissenschaftlich erarbeitete Lösungen für lebensweltliche Probleme stoßen oft auf Widerspruch. Oder wer verzichtet schon auf Coffee to Go-Becher, auf Zucker, Flugreisen und sonstigen Komfort – nur weil die Forscher uns vermüllte Ozeane, Diabetes mellitus und schmelzende Gletscher vorrechnen?

Wenn Wissenschaftler multidisziplinär zusammenarbeiten, teilen sie ihr Wissen wie gute Nachbarn den selbstgebackenen Kuchen auf dem Büffet

Designer als Integrationsbeauftragte und Hebammen

Merke: Bei strittigen Problemen mitten aus der Lebenswelt – der Kybernetiker Horst Rittel nennt sie „wicked problems“ – stoßen einzelne Disziplinen an ihre Grenzen. Ihr Wissen reicht nicht aus oder es wird abgelehnt und bleibt tot. Transdisziplinäre Forschung ist wirksamer, weil sie praktisches Wissen mit wissenschaftlichem Verständnis verbindet. So kann sie gesellschaftliche Veränderung katalysieren. Und wo bleiben im transdisziplinären Prozess die Designer? Sie helfen den Beteiligten sich gegenseitig zu verstehen und gemeinsam voranzukommen. Die große Herausforderung ist die Vielfalt der Beteiligten. Der Eine redet im unverständlichen Fachjargon, der Zweite kann sich nicht auf eine gemeinsame Zielvorstellung einlassen und der Dritte fühlt sich benachteiligt. Die pluralistischen Sichtweisen müssen aufeinander bezogen und produktiv einbezogen werden. Das Fachwort nennt sich Integration. Und Integration kann über Sprache geleistet werden. Alle reden so lange miteinander, bis jeder vom anderen weiß, was er meint und damit einig ist. Das kann schwierig werden. Designer haben da noch ein paar Hilfsmittel im Köfferchen. Sie schaffen Alternativen zu Sprache und Text. Sie entwerfen Skizzen, Modelle, Prototypen. Dieses Entwerfen ist das designerische Moment. Meine These: Die Beteiligten eines transdisziplinären Projekts arbeiten erfolgreicher zusammen, wenn sie sich begleitend über Visualisierungen verständigen. Warum? Weil entworfene Bilder und Objekte präsent sind, sinnlich erfahrbar und relativ dauerhaft im Gegensatz zur flüchtigen Sprache. Wer mit Papier und Schere oder aus Lego seine Vorstellung einer idealen Parkanlage baut, der muss sich entscheiden und konkret werden. Er kann sich nicht in abstrakten Verklausulierungen verlieren. Und andere können daran anknüpfen, das Modell der Parkanlage bewerten und modifizieren. Das Entwerfen hilft dem Wir-Gefühl, dem gemeinsamen Verständnis und dem Entscheidungsprozess.

Meine These: Die Beteiligten eines transdisziplinären Projekts arbeiten erfolgreicher zusammen, wenn sie sich begleitend über Visualisierungen verständigen.

Und am Ende akzeptieren der Baubürgermeister, die Anwohnerin und der Einzelhändler hoffentlich gleichermaßen die bauliche Veränderung in der Stadt. Designer sind die „Hebammen“, um hier nochmals Horst Rittel zu zitieren. Sie vollbringen nicht das große Werk, aber sie stellen das Entwurfswerkzeug.

Designer sind die „Hebammen“, um hier nochmals Horst Rittel zu zitieren. Sie vollbringen nicht das große Werk, aber sie stellen das Entwurfswerkzeug.

Tabea Schmid
Arbeitet aktuell an ihrer Dissertation zu digitalen Kulturerbe im Museum. Sie studierte Informationsdesign und Strategische Gestaltung und befasste sich in ihrer Masterarbeit mit den Handlungsmöglichkeiten des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Für weitere Informationen:

Tabea Schmid auf Researchgate

Text von Tabea Schmid
Bild von Lisa Kern

Ich bin Tabea Schmid

Portrait einer lachenden Designtheoretikerin in der Natur mit kinnlangen braunen Haaren und verschränkten Armen

Name: Tabea Schmid

Alter: 36

Wohnort: Remshalden

Beruf: familienkulturgestaltende Designtheoretikerin

Hauptcharakterzug: Ideensammler

Lieblingsschrift: LL Circular

Lieblingsfarbe: Lichtgrau

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